1.
„Ich möchte offen mit Ihnen reden“, sagte Frau Scholler-Borstig und verschränkte die Hände auf dem Tisch, als wolle sie beten. Ich schätzte sie auf Anfang dreißig und dachte: Die Arme, so jung -
und schon Lateinlehrerin...
Frau Scholler-Borstig (sie hieß wirklich so!) trug eine braune Cordhose, einen weißen Baumwollpulli mit Lochmuster und auf der Nase eine schmale, rechteckige rote Brille. Ihre Haare waren
ohrläppchenkurz, glatt und in einer Farbe, von der man zumindest sicher sein konnte, dass es das Original war: mausgrauschlammbeigeblond. Sie war eine von den Frauen, bei denen man sich einfach
nicht vorstellen kann, wie sie aussehen, wenn sie lachen.
Gestern hatte sie mich angerufen und hergebeten.
„Könnten Sie es vielleicht einrichten, morgen um 10 Uhr 30 zu meiner Sprechstunde in den Klassenraum E 05 zu kommen?“, hatte sie gefragt. „Ich muss dringend mit ihnen über die schulischen
Leistungen Ihrer Tochter Isabel reden.“
Da ahnte ich schon, was auf mich zukommen würde: dramatisch abgesackte Noten, gehäuftes unentschuldigtes Fehlen, Versetzung gefährdet, das ganze Programm ... Ich wusste das alles schon von
Isabels Mathe- und Physiklehrer, der mich in der vorigen Woche herbestellt hatte.
Nun war ich also wieder da.
Wir saßen einander gegenüber an einem Pult in einem Klassenzimmer im Erdgeschoss. An der Tafel hinter Frau Scholler-Borstig stand „De finibus bonorum et malorum“. Der Rest war weggewischt.
„Das ist Cicero“, sagte Frau Scholler-Borstig, die meinem Blick gefolgt war, ohne sich umzudrehen. „Die Maßstäbe des Guten und Bösen. Eine seiner philosophischen Schriften. Isabel hat es heute
nicht geschafft, auch nur einen Satz daraus fehlerfrei zu übersetzen.”
Ich fand es beeindruckend, dass meine Tochter auch nur ein einziges Wort davon hatte übersetzen können, wollte das der Lehrerin aber so direkt nicht sagen.
„Mir wäre es ja auch lieber, wenn meine Tochter ein Latein-Mathe-Physik-Genie wäre”, erklärte ich stattdessen und hoffte, dass ich recht zerknirscht dabei aussah. „Aber sie ist fünfzehn. Da kommt
es doch gelegentlich schon mal vor, dass sich ein Mädchen mehr für Klamotten, Schminke und Musik interessiert als für den Ablativus absolutus oder die Binomischen Formeln.”
„Das ist mir durchaus bekannt, Frau Herold. Trotzdem sollten Sie und Ihr Mann die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich befürchte, dass Isabel das Klassenziel verfehlt, wenn sie sich
nicht bald auf den Hosenboden setzt und lernt. Wie wäre es zum Beispiel mit Nachhilfe?”
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ein heikles Thema. Wenn ich Isabel gelegentlich mal ganz dezent auf ihre schulischen Probleme anspreche, dann endet das regelmäßig mit unerfreulichem Geschrei und zugeschlagenen Türen. Ich setze
einfach darauf, dass sie im nächsten Schuljahr vernünftiger sein und es dann schaffen wird.”
Mit ihrem Bruder Bastian war es in diesem Alter nämlich auch nicht viel besser gewesen (abgesehen davon, dass seine Interessen etwas anders gelagert waren: mehr Fußball, weniger Schminke), und
jetzt studierte er seit vier Semestern Betriebswirtschaft in Berlin. Ganz fleißig, soweit ich das beurteilen konnte. Er hatte sich allein um seinen Studienplatz gekümmert und sich ein Zimmer in
einer WG gesucht. Mehr als 600 Kilometer entfernt von unserem Zuhause in München. Ging doch. Seit ein paar Monaten war er außerdem mit Anne zusammen, einer Jurastudentin, die den WhatsApp-Fotos
nach, die er uns geschickt hatte, einen sehr netten Eindruck machte. Also alles bestens.
„Unser Großer ist auch ein anständiger Junge geworden”, erklärte ich. „Ich bin sicher, Isabel wird ihren pubertären Dauerflash bald überwinden.”
Vielleicht gelang es mir ja doch noch irgendwie, Isabel zum Lernen zu bewegen, damit sie die Versetzung schaffte. Vielleicht, wenn ich ihr sagte, dass sie sich zur Belohnung dann bei Germanys
Next Topmodel bewerben durfte. (Andererseits: Vielleicht war Sitzenbleiben doch gar nicht so schlimm ...)
„Isabels Mitarbeit im Unterricht lässt allerdings mehr als zu wünschen übrig”, riss Frau Scholler-Borstig mich aus meinen Gedanken. „Sie ist mir viel zu still.“
„Na ja, Latein ist schließlich auch eine tote Sprache.“ Ich biss mir auf die Lippen, aber da war es mir schon rausgerutscht. Frau Scholler-Borstig runzelte ihre junge Stirn.
„Ich lasse das Lateinische in meinem Unterricht durchaus lebendig werden“, erklärte sie würdevoll.
Dann hielt sie mir einen Vortrag über die Bedeutung der lateinischen Sprache im Hinblick auf die kulturelle Entwicklung Europas und dass sie im Übrigen unbedingte Voraussetzung für viele
interessante Studiengänge sei. Isabel dürfe sich durch reine Faulheit nicht ihre Zukunft ruinieren undsoweiter, undsoweiter. Schon vom Zuhören wurde mir ganz schwindelig.
Während sie redete, gab mein Handy in der Tasche zweimal hintereinander einen Piepston von sich. Ich hätte jetzt gerne nachgesehen, wer mir da geschrieben hatte. Aber Frau Scholler-Borstig sah
mich so streng an, dass ich nicht wagte, das Telefon hervorzuholen. Wahrscheinlich hätte sie mich ohne mit der Wimper zu zucken zum Nachsitzen verdonnert.
„Ich müsste dann allmählich mal gehen„, sage ich, als sie endlich eine Pause machte, um Luft zu holen. „Mr. Spock wartet auf mich.“
„Mr. Spock?“ Für einen Moment verlor Frau Scholler-Borstig beinahe die Fassung. „Oh. Haben wir etwa einen neuen Kollegen im Fachbereich Englisch bekommen?“
„Nein, nein.“ Ich unterdrückte ein Grinsen. „Und übrigens auch keinen neuen Kollegen für den Fachbereich Klingonisch oder wie immer das heißt. Mr. Spock ist unser Hund. Er sitzt unten im Schulhof
neben den Fahrradständern, und ich befürchte, es wird ihm ein bisschen zu viel, wenn gleich die große Pause losgeht und die Kinder um ihn herumtoben. Er ist nicht mehr der Jüngste.“
Frau Scholler-Borstig nickte mit schmalen Lippen und entließ mich gnädig.
Ich versprach ihr, gleich heute Abend ein ernstes Wort mit Isabel zu reden, und war froh, als ich das Klassenzimmer wieder verlassen konnte. Lieber zwei Stunden mit einem alten arthritischen Hund
spazieren gehen als mir weiter von Frau Scholler-Borstig ein schlechtes Gewissen machen zu lassen.
„Komm, Spock!“
Vor der Schultür band ich die Leine los, worauf der Hund erst mal seine großen spitzen Ohren aufrichtete, sich dann erhob und ganz allmählich in Bewegung setzte. Wahrscheinlich war er nicht nur
arthritisch, sondern auch taub.
Mr. Spock war ein Relikt aus alten Zeiten, aus der Frühphase unserer Familie, als Isabel und Bastian noch kleine Kinder gewesen waren und ich in einem schwachen Moment ihrem monatelangen
Gequengel nachgegeben hatte („Mama, alle haben einen Hund! Wir wollen unbedingt auch einen! Bitte-bitte! Wir gehen auch jeden Tag ganz oft mit ihm Gassi!“). Wir waren ins Tierheim gefahren und
zwei Stunden später mit dem niedlichsten aller schwarz-braun-weiß gescheckten Mischlingswelpen, die da auf uns zu getapst waren, wieder nach Hause gekommen. Er war schätzungsweise halb Pudel,
halb Schäferhund. Und vielleicht auch noch ein bisschen Eichhörnchen. Keine Ahnung, welche edle Rasse ihm seine erstaunlichen Ohren vererbt hatte. Aber wenigstens stand damit sofort fest, wie er
heißen würde. (Auch wenn Daniel den Kindern damals erst mal ein bisschen was über Star Trek erzählen musste.)
Dabei war eigentlich von Anfang an klar gewesen, dass am Ende alles an mir hängen bleiben würde. Die täglichen Spaziergänge mit einem Satz schwarzer Bello-Beutel in der Jackentasche (und vor
allem der Gebrauch der kleinen Plastiktüten!). Die Suche nach den Flipflops und Gummistiefeln, die Mr. Spock (zumindest in seinen ersten Lebensjahren) regelmäßig von den Terrassen der
Nachbarhäuser klaute und irgendwo gut versteckt in unserem Garten deponierte. Das Verabreichen von hinterlistig in drei Salamischeiben eingewickelten, weil vermutlich übel schmeckenden
Anti-Arthritis-Tabletten seit einigen Jahren ... All das eben, was das lange Leben mit einem Hund ausmacht.
Ich mochte Mr. Spock und ging gern mit ihm spazieren. Nicht nur, wenn es so schön sonnig war wie heute. Auf diese Weise konnte ich mir jeden Tag einreden, ausreichend Sport gemacht zu haben.
Wenngleich eher in Zeitlupe.
Mr. Spock war ruhig, er bellte nicht (selten), biss nicht (wirklich nie!) und hörte (manchmal), wenn man seinen Namen rief. Aber vor allem fand ich es schön, jemanden an meiner Seite zu haben,
jetzt, wo die Kinder groß waren und Daniel mit seiner Uni-Karriere schwerst beschäftigt war.
Ich war die Gattin des Münchner Biologieprofessors Prof. Dr. Daniel Herold, international gefragter Experte für Amöbenforschung. Ich hatte allen Anlass, stolz auf ihn zu sein. Wenn er nicht im
Labor mit seinen Petrischalen und Pipetten herumhantierte oder im Hörsaal die Studenten mit seinen unverständlichen Vorlesungen verwirrte, dann schrieb er entweder an einer weiteren Enzyklopädie
über die Fortpflanzung von Mikroorganismen, oder er nahm irgendwo in der Welt an einem wissenschaftlichen Symposium teil und hielt dort einen Vortrag vor Fachleuten aus der Amöbenszene oder
solchen, die es werden wollen. Ich fand es wunderbar, die Frau eines Experten für Liebesdinge zu sein. Auch wenn sich sein Spezialgebiet weniger auf das Wesen der Frau als auf einen Einzeller
bezog, der über keine feste Körperform verfügt. (Was Letzteres betrifft, wurde ich einer Amöbe immer ähnlicher, wenn ich es mir recht überlegte. Ich war mir nicht sicher, ob das ein gutes oder
ein schlechtes Zeichen war.)
Während ich mit dem Hund nach Hause schlenderte, las ich die beiden Nachrichten auf meinem Handy.
Die erste hatte Isabel geschrieben: „Und? Was sagt FSB? Dass ich ’ne Fünf in Latein kriege? Ist mir doch egal. Latein ist was für Idioten. Ich bin heute Abend übrigens nicht zum Essen da.
Ciao.”
FSB? Frau Scholler-Borstig? Ich seufzte. Dann las ich die zweite Nachricht. Sie war von Daniel:
„Wartet nicht mit dem Abendessen auf mich. Heut wieder Biologenstammtisch. Wird spät. Bussi.“
Gut, dass Mr. Spock wenigstens kein Handy hatte.
2.
Wir bogen in den Akazienweg ein, ein so vertrauter Anblick schon seit fast zwanzig Jahren: Die Straße säumten hübsche kleine Jugendstilvillen in Weiß, Gelb, Hellblau und Rosa, mit
blumengeschmückten Balkonen, Erkern und Säulen. Die Vorgärten waren dekoriert mit kugelig gestutzten Buchsbäumchen, bunt bepflanzten Trögen – oder aber mit kaputten Fußbällen, Skateboards und
schnell hingeworfenen Kinderfahrrädern, je nachdem, wer im Haus wohnte.
Die Linden auf dem schmalen Grünstreifen rechts und links am Fahrbahnrand hatten vor ein paar Tagen angefangen zu blühen und zu duften, was ein Traum war. (Sofern man eine Garage hatte und nicht
an der Straße parken musste, weil einem dann ständig dieses klebrige Zeug vom Baum aufs Auto tropfte.) Weshalb unsere Straße Akazienweg hieß, obwohl dort Linden wuchsen, war mir seit jeher
schleierhaft.
Erst war ich skeptisch gewesen, als Daniel damals vorschlug, unsere gemütliche Schwabinger Dachwohnung aufzugeben und hierher nach Nymphenburg zu ziehen. Aber als ich dann diese entzückende
kleine Gründerzeitvilla mit den grünen Fensterläden und dem winzigen Zwiebelturm auf dem Dach vor mir sah, war ich sofort Feuer und Flamme. Wir mussten zwar noch eine Menge renovieren, aber jetzt
sah unser Zuhause wunderschön aus. Daniel hatte es von seiner verstorbenen Großtante Irmi geerbt. Trotz seines anständigen Professorengehalts hätten wir uns so ein Häuschen in einer der feinsten
Gegenden Münchens vermutlich selbst niemals leisten können, zumal mein finanzieller Beitrag zur Haushaltskasse eher gering war.
Weil es früher mal mein Traum gewesen war, Schriftstellerin zu werden, hatte ich Literatur- und Kommunikationswissenschaften studiert. Anschließend hatte ich eine Zeit lang in der
Marketingabteilung einer großen Versicherung gearbeitet, danach bei einer Bank, mich dann aber bald den wirklich wichtigen Dingen des Lebens zugewandt: Ich gab den Job auf, um mich voll und ganz
Mann, Kindern, Hund, Haus, Garten und Goldfischteich zu widmen. Damit hatte ich genug zu tun, jedenfalls solange die Kinder klein waren.
Seit ein paar Jahren arbeitete ich ab und zu als freiberufliche Texterin für eine kleine Werbeagentur. Für eine sehr kleine Werbeagentur. Ehrlich gesagt war es ein Ein-Mann-Betrieb. Zu unseren
Kunden gehörten in erster Linie bescheidene Unternehmen im Viertel, die den ganz großen Geschäftserfolg noch vor sich hatten. Von mir stammten der hübsche Name für die neue Änderungsschneiderei
„Verflixt und zugeknöpft” oder der vielsagende Slogan, der seit einem halben Jahr auf den Einkaufstüten der örtlichen Bio-Bäckerei zu lesen war: „Bestes Brot von Rosenegger – Nymphenburgs
beliebter Bäcker”. Das mochte zwar nicht besonders anspruchsvoll klingen, aber mir machte es Spaß und gab mir das angenehme Gefühl, mein Studium nicht völlig umsonst gemacht zu haben, nachdem es
mit der Karriere als Autorin von historischen Liebesromanen schon nicht geklappt hatte. Dabei hatte ich es vor einem Jahr noch einmal ernsthaft versucht. Anstatt die Abende vor dem Fernseher zu
verbringen, hatte ich mich mit meinem Laptop in Bastians verwaistes Jungenzimmer zurückgezogen und einen 856 Seiten starken Schmöker mit dem Titel „Das Vermächtnis der katalanischen
Henkerstochter“ in die Tasten getippt, eine wildromantische Geschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in der es um jede Menge Liebe, Leidenschaft, Verrat und Versöhnung ging. Ich
schickte mein Manuskript an zehn Verlage und bekam postwendend zehn Absagen. Immerhin war der eine Verlag so aufmerksam und empfahl mir, mich bei meinem nächsten Romanprojekt doch bitte
intensiver mit den historischen Hintergründen auseinanderzusetzen. Aber für eine intensive Auseinandersetzung mit historischen Hintergründen hatte ich nun mal keine Zeit. Deshalb beschloss ich,
von Romanprojekten aller Art erst mal Abstand zu nehmen und meine gesamte Kreativität dem Verfassen von Werbetexten zu widmen. Darin war ich etwas besser.
Unser Gartentor gab das vertraute Quietschen von sich, als ich es öffnete und hinter dem Hund eintrat. Mr. Spock stürzte sich sofort auf die flache marmorne Vogeltränke, die neben der Treppe zur
Haustür stand, und schlabberte geräuschvoll eine Ladung Wasser. Ich fragte mich, ob er möglicherweise an Diabetes litt. Der Tierarzt hatte neulich so etwas angedeutet.
Noch während ich darüber nachdachte, zuckte ich erschrocken zusammen: Wo – zum Henker! - waren meine Pfingstrosen?
Vor dem Haus stand mein ganzer gärtnerischer Stolz. Jedenfalls das, was bis vorhin mein ganzer gärtnerischer Stolz gewesen war: ein prächtiger Busch Pfingstrosen, der sich von Jahr zu Jahr
üppiger entwickelte, aus dessen Blättern jetzt allerdings nur noch etliche leere Stängel ragten. Vier kümmerliche rosa Blüten konnte ich entdecken, der Rest war weg.
Ich starrte auf den geplünderten Busch. Gestern Abend waren es noch neunzehn Stück gewesen. Ich hatte sie nachgezählt, einmal, weil ich gerade sonst nichts zu tun gehabt hatte, vor allem aber,
weil ich meine Pfingstrosen liebte und mich so gefreut hatte, dass in diesem Jahr so viele Blüten gekommen waren. Und jetzt das. Fünfzehn Blüten futsch. Der Strauch praktisch nackt. Ein
Pfingstrosenmassaker direkt vor meiner Haustür!
Es musste eben erst passiert sein, während ich bei Frau Scholler-Borstig gewesen war.
„Ach, Spock”, seufzte ich in Ermangelung eines anderen Gesprächspartners. „Isa ist doch heute später zur Schule gegangen, da hätte sie ja ruhig mal ein bisschen aufpassen können, wenn sie schon
kein Latein lernt.”
Der Hund sah kurz zu mir und meinem botanischen Elend herüber, machte aber nicht den Eindruck, als wolle er umgehend die Fährte des Blumendiebs aufnehmen. Ich holte die Post aus dem Briefkasten
und schloss die Haustür auf, worauf Spock schwerfällig die drei Stufen hinaufhopste.
Während ich in der Diele die Schuhe von den Füßen streifte, sah ich kurz die Briefe durch. Die Telefonrechnung, drei Werbesendungen, irgendwas von unserer Krankenversicherung und ein
handbeschriebener Briefumschlag.
Welch eine unglaublich schöne Schrift, dachte ich - dunkelgrüne Tinte! –, aber da stellte ich fest, dass dieser Brief gar nicht an uns addressiert war.
Laura Caspari, stand in hübsch geschwungenen Buchstaben auf dem Kuvert. Die Adresse darunter war allerdings die unsere: Akazienweg 23 in München. Auch die Postleitzahl stimmte. Komisch. Wer war
Laura Caspari?
Wie ich feststellte, war dieser Brief weit gereist. Die Briefmarke sah exotisch aus: ein pinkfarbener Schmetterling auf gelbem Grund mit irgendwelchen asiatischen Schriftzeichen drumherum. Ich
schaute mir den Poststempel genauer an und las: Hongkong. Vor fünf Tagen abgeschickt und schon angekommen.
Allerdings im falschen Briefkasten.
Ich drehte den Brief um, damit ich sehen konnte, an wen ich den Irrläufer zurückschicken musste. Aber es stand kein Absender darauf. Das Einzige, was ich las, waren vier verschnörkelte grüne
Buchstaben: Alex.
Vielleicht, dachte ich, hatte sich dieser Alex einfach bei der Hausnummer geirrt.
„Komm, Spock, wir drehen noch eine kleine Runde.“
Gemächlich ging ich mit dem Hund den Akazienweg einmal auf und ab. Wie es der Name nahelegt, handelte es sich bei der unseren um keine allzu große Straße. Hausnummer eins bis 33 auf der einen
Seite, zwei bis 34 auf der anderen. Ich überprüfte sämtliche Haustüren und Gartentore, aber auf keinem Klingelschild stand der Name Caspari.
Zu Hause legte ich den Brief schulterzuckend zu der anderen Post auf die Kommode.
3.
Isabel kam am Abend um zwanzig nach neun nach Hause und schleuderte ihre Schultasche in die Ecke. Die Sneakers flogen gleich hinterher. Sie hatte gerade ihre schwarze Phase und sah fast so aus,
als käme sie von einer Beerdigung: schwarze Strumpfhose (mit demonstrativ dicker Laufmasche vom Knie bis zum Knöchel), schwarzes T-Shirt, schwarzer Rock, wobei man dieses ultrakurze Stück Stoff
über ihren Hüften eigentlich nicht wirklich als Rock bezeichnen konnte. Aber mich über ihre Garderobe aufzuregen, das hatte ich längst aufgegeben.
Nicht aber über ihren mangelnden Ordnungssinn.
„Räum deine Klamotten ordentlich weg. Und wieso kommst du so spät?“
„Jetzt chill mal, Mama. Die Sachen brauche ich morgen sowieso gleich wieder, und ich hab dir doch geschrieben, dass ich nicht zum Abendessen hier bin.“
Sie holte sich ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank und trank gleich aus der Flasche. Meine Aufforderung „Nimm dir doch bitte ein Glas“ überhörte sie geflissentlich.
„Hast du mal auf die Uhr gesehen, Isa? Es ist gleich halb zehn, und so wie ich dich kenne, hast du noch nicht einen Strich Hausaufgaben gemacht.“
„Ich hab keine auf.“
„Dann geh die Lateinvokabeln der vergangenen drei Monate durch. Frau Scholler-Borstig hat gesagt, dass du da eine Menge nachzuholen hast.“
„Die kann mich mal, die olle Scholle.“
„Isabel!“
„Ist doch wahr!“
„Wenn du nicht allmählich in die Puschen kommst, bleibst du in diesem Jahr sitzen.“
„Na und? Flo und Vicky und Luisa bleiben auch sitzen. Wir wollen sowieso zusammenbleiben.“
So kam ich irgendwie nicht weiter.
„Wo warst du überhaupt den ganzen Abend?“
„Auf der Schlosskanalbrücke. Mit Flo und Vicky und Luisa und den anderen. Wir haben Vickys Geburtstag gefeiert. War ein cooler Sonnenuntergang.“
Kein Wunder, dass Isabels Freunde die Klasse nicht schafften, wenn sie den ganzen Tag draußen herumhingen. Andererseits waren sie da wenigstens an der frischen Luft. Die alte steinerne
Fußgängerbrücke über den Nymphenburger Schlosskanal hatte sich in letzter Zeit – zum Leidwesen der näheren Anwohner - zu einem weiteren Freizeit-Hotspot in München entwickelt. Scharen von zumeist
jungen Leuten trafen sich dort bei schönem Wetter regelmäßig abends zu spontanen Straßenpartys. Die Bücke hatte eine breite Brüstung, auf der man prima sitzen und in der Ferne den Sonnenuntergang
am Schloss Nymphenburg bestaunen konnte.
„Und was habt ihr da gemacht?“
„Flo hat Gitarre gespielt. Mir hat er auch ein paar Griffe beigebracht.“
„Gitarre? Es wäre schön, wenn du mal wieder ein bisschen Klavier spielen würdest. Wofür haben wir dir eigentlich jahrelang Klavierunterricht bezahlt? Das Ding steht nur noch im Wohnzimmer herum
und verstaubt ...“
„Klavier ist doch voll dämlich, Mama. So ein Tastengeklimper braucht kein Mensch. Du spielst doch auch nicht mehr, obwohl du es früher mal gelernt hast. Gitarre ist cool. Ich will Gitarre lernen.
Und zwar E-Gitarre!“
Vielleicht war das ein Ansatzpunkt.
„Meinetwegen können wir darüber reden, wenn du dieses Schuljahr geschafft hast. Aber dafür musst du erst mal vernünftig Latein lernen.“
„Lernen, lernen“, äffte Isabel mich nach. „Kannst du mir mal erklären, wofür ich dieses bekloppte Latein irgendwann mal gebrauchen kann?“
Ich erwog kurz, meiner Tochter die Sache mit der europäischen Kultur zu erläutern, aber ich hatte das sichere Gefühl, dass das bei ihr keinen großen Eindruck machen würde.
„Es gibt ein paar Dinge, die muss man einfach lernen, Isa. Da merkt man dann erst später, wofür sie gut sind.“ Ich befürchtete, das klang in den Ohren einer Fünfzehnjährigen nicht besonders
überzeugend. Es klang nicht mal in meinen eigenen Ohren überzeugend.
„Ich will sowieso nicht studieren. Ich will Musik machen. Wir gründen eine Band, Vicky, Luisa und ich. Wir wissen auch schon, wie wir uns nennen. The Stitching Bitches. Klingt krass, oder?“
„Die stickenden Schlampen? Ähm. Okay. Wenn’s euch gefällt ...“
Immerhin schienen ein paar Vokabeln vom Englischunterricht hängen geblieben zu sein.
„Die Idee mit dem Namen hatte Vicky.“
Na ja. Immerhin schienen bei einer ihrer Freundinnen ein paar Vokabeln vom Englischunterricht hängen geblieben zu sein.
„Und ich werde die Leadsängerin der Stitching Bitches!”
„Tatsächlich? Donnerwetter! Und was singt ihr?”
„Ach, Punk und so, alles Mögliche. Aber davon hast du doch sowieso keine Ahnung, Mama. Es ist nicht Abba!”
„Aha.”
Ich nutzte die halbwegs friedliche Stimmung in der Küche, um sie vielleicht doch noch davon zu überzeugen, etwas zu essen.
„Magst du ein paar Spaghetti?“
„Welche Sauce?“
„Bolognese.“
„Igitt. Ich hasse Hackfleisch. Ich bin jetzt Vegetarierin. Warum machst du nicht einfach was mit Tomate?“
Offenbar konnten sich die geschmacklichen Vorlieben eines pubertierenden Mädchens innerhalb von vierundzwanzig Stunden grundlegend ändern. Gestern Abend hatte sich Isabel noch darüber beschwert,
dass ich immer nur so ein „ekliges Gemüsezeug“ und nicht „mal wieder was richtig Tolles wie Spaghetti Bolognese oder so“ kochen würde.
Wahrscheinlich hatte einer aus der Flo-Vicky-Luisa-Clique im Laufe des Tages irgendetwas Ablehnendes über Hackfleisch verlauten lassen. Und das wusste man ja, dass die Meinungen der Freunde für
eine Fünfzehnjährige etwa den Stellenwert haben wie die Zehn Gebote für den Papst.
„Ich geh jetzt duschen“, erklärte Isabel, schnappte sich einen Apfel aus der Obstschale und rauschte aus der Küche. Übersetzt hieß das: „Rechne bitte nicht damit, innerhalb der nächsten
eineinhalb Stunden das Badezimmer benutzen zu können.“
Ich spannte eine Zellophanfolie über die Saucenschüssel und schob sie in den Kühlschrank. Vielleicht hatte Daniel ja noch ein bisschen Appetit, wenn er von seinem Stammtisch nach Hause kam.
Mr. Spock schlich in die Küche und blickte mich mit seinem sehr speziellen Ich-bin-ein-alter-kranker-Hund-und-habe-Hunger-Blick an, worauf ich ihm ein paar Spaghetti in seinen Napf gab, die er
begeistert auffraß. Ich ärgerte mich, dass ich nicht daran gedacht hatte, wenigstens seine Arthritistablette unter die Nudeln zu schmuggeln, wenn ich schon seine vom Tierarzt verordnete Diät
ignorierte.
4.
„Na, wie war dein Tag?“
Daniel steckte den Kopf ins Badezimmer, als ich schon dabei war, mir die Zähne zu putzen. Es war nach Mitternacht.
„Alles okay“, grunzte ich mit Schaum im Mund. Es war gerade nicht der richtige Zeitpunkt, um ihm von Isabels Schulproblemen und den geklauten Pfingstrosen zu erzählen.
Daniel gab mir im Vorbeigehen einen schnellen Kuss auf die Wange, der schwach nach Bier und Knoblauch roch. Dann klappte er den Klodeckel auf. Immerhin war er so anständig, mit aufgeklappter
Klobrille zu pinkeln.
„Professor Jaspers war heute beim Stammtisch“, erzählte er, während er die Spülung zog und sich die Jeans wieder zuknöpfte. „Erinnerst du dich an ihn? Der Kollege, der vor drei Jahren einen Ruf
nach Berkeley bekommen und seitdem in Kalifornien gearbeitet hat. Er ist jetzt wieder in München.“ Ich trat einen Schritt zur Seite, damit Daniel Platz hatte, um sich die Hände zu waschen. Ich
war mit dem Zähneputzen fertig und konzentrierte mich darauf, die frisch erworbene Revitalizing Supreme Globale Anti-Aging Creme Q10 plus in meine Gesichtshaut einzuarbeiten. Hoffentlich war der
Name dieses Produktes nicht länger als seine Wirkungszeit. Ich hatte das Zeug erst gestern gekauft, und es war irrsinnig teuer gewesen. Aber wenn man auf die fünfzig zuging, musste man etwas in
seine Optik investieren, koste es, was es wolle, damit man nicht am Ende aussah wie eine überdimensionale Rosine. Nach dem, was auf dem Beipackzettel stand, sollte ich morgen früh frisch, glatt
und strahlend schön aussehen wie Schneewittchen. Also irgendwie ganz anders als sonst. Hoffentlich erkannte Daniel mich dann noch wieder.
„Die arbeiten da in Berkeley gerade an einer Weiterentwicklung ihres Fluoreszenzmikroskops„, erzählte er und drückte sich einen Streifen Zahnpasta auf seine Zahnbürste. „Super Sache. Vielleicht
wäre das auch was für unser Institut.“
„Hmm“, machte ich, während ich noch intensiv mit Cremetupfen beschäftigt war. Serum Idealist Pore Minimizing Skin Refinisher diesmal. Ich wollte antifalten-technisch auf Nummer Sicher gehen,
deshalb benutzte ich gleich zwei Cremes.
„Unsere neue Doktorandin hat voriges Jahr zwei Semester bei ihm gearbeitet und meint auch, diese Anschaffung würde sich lohnen. Mal sehen, was unser Etat für dieses Jahr noch hergibt.“
Daniel war ein seltener Fall von multitaskingfähigen Männern. Er konnte sich die Zähne putzen und gleichzeitig halbwegs verständlich mit mir reden. „Und was gab’s bei dir heute?“
„Isa macht gerade ziemlichen Stress. Weißt du, dass sie dieses Schuljahr wahrscheinlich sitzen bleibt? Ich war heute bei ihrer Lateinlehrerin. Sieht schlecht aus.“
„So schlimm? Und Mathe?“
„Genauso schlimm. Und Physik auch.“
„Echt? Mist.“
„Sie hat einfach keine Lust auf Schule. Kannst du mal mir ihr reden?“
„Klar. Am Wochenende habe ich ein bisschen Zeit. Dann rede ich mit ihr. Das muss doch zu schaffen sein. Es sind noch fast drei Monate bis zu den Zeugnissen, und sie ist doch nicht blöd.“
„Sie hat gerade ganz was anderes im Kopf. Wusstest du, dass sie Gitarre spielen lernen möchte?“
Statt einer Antwort spuckte Daniel den Zahnpastaschaum ins Waschbecken und spülte sich den Mund aus.
Als er zehn Minuten nach mir ins Schlafzimmer kam, lag ich schon im Bett, drehte mich aber noch mal zu ihm um.
„Hast du das mit den Pfingstrosen gesehen?“
„Nein, wieso? Welche Pfingstrosen?“
Er zog sich die Socken von den Füßen.
„Die im Vorgarten. Irgendwelche Idioten haben die Blüten geklaut, fast alle.“
„Wer?“
„Keine Ahnung.“
„Das ist Pech. Aber im nächsten Jahr blühen sie wieder.“
Mit einem wohligen Seufzen streckte er sich neben mir aus. Ich streichelte seinen Oberarm.
„Aber ich hatte mich dieses Jahr so sehr auf die Pfingstrosen gefreut. So viele hatten wir noch nie.“
„Wird schon“, murmelte Daniel nur und rollte sich zur Seite. Das war sein sehr diplomatischer Hinweis darauf, dass er einen langen, anstrengenden Tag hinter sich hatte, morgen früh raus musste
und deshalb jetzt gerne auf Kommunikation jeder Art verzichten und lieber schlafen würde.
Aber ich war noch nicht ganz fertig mit meiner abendlichen Lagebesprechung.
„Kennst du eine Laura Caspari?“
Daniel überlegte eine Sekunde, dann brummte er in sein Kopfkissen: „Caspari? Nie gehört. Warum?“
„Nur so. Heute kam ein Brief bei uns an. Da stand dieser Name drauf. Und als Absender nur Alex, ohne irgendeine Adresse.“
„Einen Alex kenne ich auch nicht.“
„Vielleicht wohnte diese Laura früher mal hier? Könnte das eine Verwandte von Tante Irmi sein?“
„Tante Irmi hatte keine weiteren Verwandten, Schatz, sonst hätten wir dieses Haus nicht geerbt. Vielleicht weiß Tim von nebenan was, der wohnt schließlich schon länger hier als wir. Oder bring
den Brief zur Post, sollen die sich doch darum kümmern. Oder noch besser: Wirf ihn einfach in den Müll. Wer seine eigene Adresse nicht auf den Umschlag schreibt, ist selbst schuld.“
Ein paar Sekunden später hörte ich ein leises, regelmäßiges Pfeifgeräusch. Sehr beneidenswert, dass Männer in einen Tiefschlaf fielen, sobald sie ein paar Sekunden lang in der Horizontalen
lagen.